Der zweite Polizeiangriff und das Ende der Schiffbeker Räterepublik
So sahen die Schiffbeker Aufständischen, gegenüber dem Vortag verstärkt durch etwa 100 Genossen und eine unbestimmte Zahl an Schusswaffen, ihrem letzten Gefecht und das sozialistische Schiffbek seinem Ende entgegen. Auf dem Turm der Kreuzkirche, auf den Dächern, in den Schützengräben und hinter den Fenstern mancher Wohnungen erwarteten die Bewaffneten den Orpo-Angriff. Fiete Schulzes Befehl, im letzten Augenblick die Rote Brücke zu sprengen, konnte das Sprengkommando mangels Dynamit nicht nachkommen.
Außerhalb des kleinen Arbeitervororts hatte Polizeichef Danner mittlerweile seine Truppen zusammengezogen: „Nachdem in den frühen Morgenstundendes 24. Oktober 1923 in Barmbek die Ordnung wiederhergestellt war, war die Zeit gekommen, auch in Schiffbek aufzuräumen. Die Bergedorfer Polizei hatte schon mehrfach um Hilfe gerufen, und die Straße dorthin führte durch Schiffbek. Da der Straßenkampf in Hamburg völlig beendet war, entschloss sich der Chef der Ordnungspolizei, die Leitung des Angriffs auf Schiffbek selbst zu übernehmen. Er stellte dazu 4 Bereitschaften, das Landungskommando des Kreuzers Hamburg und 1 Zug berittener Polizei des Polizeipräsidiums Altona bereit.“
Die für das Dannersche Truppenkontingent vom Hamburger Fremdenblatt angegebene Mannschaftsstärke von 500 ist vermutlich überhöht. Geht man von Hartensteins Angaben aus, wonach die Stärke der Wachbereitschaft Landschutz zwischen 70 und 75 Beamte und eine Wachbereitschaft Hafenschutz etwa 60 bis 65 Beamte ausmachte, addiert bei Unterstellung der maximalen Zahlen die 30 Marinesoldaten und rechnet für einen Zug Reiterei eine halbe Bereitschaft, also etwa 35 Mann, so kommt man, selbst wenn man die zwei zusätzlich eingesetzten Panzer mit insgesamt 10 Polizisten bemannt, lediglich auf eine Zahl von 355 Angreifern auf Schiffbek.
Anders als am 23. Oktober erfolgte der Vorstoß der Polizei diesmal nicht in erster Linie in west-östlicher Richtung gegen die umfangreichsten und am Vormittag noch verstärkten Verteidigungsanlagen der Kommunisten. „Der Hauptstoß sollte über das freie Feld gegen den langgestreckten Nordrand des Ortes geführt werden. Bei diesem Vorgehen kam die überlegene Ausbildung der Polizeitruppe besser zur Geltung als im eigentlichen Straßenkampf Durch gleichzeitiges Vorgehen in ganzer Breite bestand Aussicht, das gegnerische Feuer zu zersplittern.“ Um 12.30 Uhr gab Danner seiner auf der Straße Wandsbek-Rahlstedt gesammelten Truppe folgenden Befehl, in dem die Panzerfahrzeuge als „Sonderwagen“ bezeichnet wurden:
„1. Schiffbek sowie Ober- und Niederschleeme von Aufrührern stark besetzt. Die Hauptwiderstandsnester befinden sich anscheinend am West- und Ostausgang von Schiffbek und auf der Höhe nordöstlich von Schiffbek, wo geschanzt wird.
2. Das detachement greift an und besetzt Schiffbek bis zur Bille und zur Kleinbahn Schiffbek-Havighorst.
3. Berittener Zug der Schutzpolizei Altona klärt auf über Jenfeld auf Schiffbek und über Öjendorf auf Niederschleeme und Kirchsteinbek. Der Rest des Zuges besetzt KIrchsteinbek und sperrt die Straße Schiffbek-Bergedorf.
4. Freihafenrevier 11 und 1 Sonderwagen greifen 1.15 Uhr nachmittags vom Ortsausgang von Horn aufbrechend Schiffbek an. Der Nordflügel des Reviers ist durch weiße Leuchtkugeln zu bezeichnen.
5. 14. Wachbereitschaft, verstärkt durch 1 Sonderwagen und 2 schwere und 2 leichte Maschinengewehre der Marine-Landungsabteilung, greift, 1 Uhr nachmittags längs des Weges Jenfeld-Schiffbek antretend, Schiffbek an.
6. 5. Wachbereitschaft, verstärkt durch 2 schwere Maschinengewehre der Marine-Landungsabteilung, geht 1 Uhr nachmittags über Jenfeld-Öjendorf vor und greift Ober- und Niederschleeme an. Rechte Angriffsgrenze Straße Oststeinbek-Oberschleeme.
7. 9. Freihafenrevier, verstärkt durch 2 leichte Maschinengewehre der Marine-Landungsabteilung, geht 1 Uhr nachmittags über Jenfeld-Öjendorf-Krug vor und greift über Kirchsteinbek Oberschleeme an.
8. Sanitätsstaffel über Öjendorf auf Schiffbek.
9. Meldungen treffen mich auf dem Wege Jenfeld-Öjendorf-Niederschleeme, später im Gemeindehaus Schiffbek.“
Zwei Komponenten dieses Umfassungsangriffs finden bei Danner nur unvollständige oder gar keine Erwähnung. In seinem Bericht vom 6. November 1923 heißt es ergänzend zu dem Schiffbeker Unternehmen: „Ein Flugzeug der Gesellschaft für Luftunternehmungen … hatte sich dem Unternehmen zu Aufklärungszwecken zur Verfügung gestellt. Die Luftverkehrsgesellschaft hatte auch bereits am 23. Oktober in dankenswerter Weise Aufklärungsflüge über Barmbek ausgeführt und durch photographische Aufnahmen festgestellt, in welchen Straßen und Straßenzügen Barrikadenbauten errichtet waren.“ Von der vielfach bezeugten Tatsache aber, dass aus diesem zivilen Aufklärungsflugzeug auf die Aufständischen geschossen wurde, fehlt auch in Danners Bericht vom 25. Oktober 1923 jeder Erwähnung. Dagegen gab ein Ehepaar, das später bei der Polizei die Ursachen der Verletzung eines der Aufstandsteilnahme verdächtigen Schiffbekers bezeugen sollte, zu Protokoll: „Wir waren an dem genannten Tag, als der Flieger gerade über Kirchsteinbek kreiste und auf fliehende Kommunisten schoss, in die Wohnung von Frau C geflüchtet. Hier kam auch der K. hinzu, um Schutz zu finden. Als K. nun wieder fortgehen wollte, wurde gerade wieder geschossen und traf ihn ein Streifschuss an der Backe.“ Auch das Hamburger Fremdenblatt wusste von einem Flugzeug, das „mit Gewehrfeuer sich ebenfalls am Kampfe beteiligte“, und nach Beobachtungen der Schiffbeker Zeitung flog das Flugzeug „immer tiefer und strich schließlich eben über die Dächer dahin, offenbar um etwaige Dachschützen unter Feuer zu nehmen“; ein Einsatz, der in Danners Buch von 1958 übergangen wird.
Außerdem sollten die von Westen, Norden und Osten umfassend angreifenden Polizeitruppen „an der Südfront“ durch einen Vorstoß der Marinesoldaten unterstützt werden, die auf Motorbooten und Barkassen die Bille herauffuhren. Neben dem forcierten Lob durch die Staatliche Pressestelle, die 30 Mariner hätten die Orpo „ausgezeichnet unterstützt“ und der völligen Nichterwähnung dieser Aktion in Danners Berichten sprechen für ein neutrales oder passives Verhalten der Landungsabteilung, wie es schon bei ihrem Barmbeker Einsatz gemutmaßt wurde, die Angaben mehrerer alter Schiffbeker, nach deren Erinnerung die Rote Armee die Bille heraufgekommen sei oder die Matrosen alle Kommunisten gewesen wären. Andererseits gehen die Gerichtsakten davon aus, dass „sämtliche Zugänge nach Billbrook … von Landungstruppen des Kreuzers Hamburg, die die Bille heraufkamen, abgesperrt waren“; und die Schiffbeker Zeitung berichtete von „Sicherheitsbeamten, die bei den Schiffbeker Wiesen ausstiegen und sich hier heranpirschten“. Aber ob neutral und passiv oder nicht, jedenfalls wurden die sich nähernden Mariner von den Aufständischen gesichtet und mehrere Kommunisten, unter ihnen wieder Gedaschke, liefen über die Wiesen zur Bille hin, gruben sich hier in einem Garten ein wenig ein und feuerten zum Fluss hinunter; eine Stellung, die sie nach kurzer Zeit wieder aufgaben, um durch die Altmannstraße (heute Geesttwiete) ins Ortsinnere zurückzulaufen und in die Schützengräben vorm Chausseehaus zu springen, aus denen lebhaft Richtung Horn geschossen wurde.
Eine andere Szene der Kämpfe beobachtete damals Erwin Ungureit. Von seiner Wohnung im 2. Stock eines Hauses im Rahlstedter Weg konnte er das Geschehen auf dem Schiffbeker Markt verfolgen; dort wo heute das „alte“ Panoramahotel steht: „Von Horn her fielen in immer schneller werdender Folge Schüsse. Ich sah, wie auf dem Marktplatz zwei Aufständische den Schleswig-Holstein-Gedenkstein als Deckung benutzten und stehend Schüsse aus ihren Karabinern abgaben. Sie waren mit reichlich Munition versehen, denn kurz vorher hatte ich beobachtet, wie Fiete Schulze … die beiden mit Munition versorgte. Dazwischen knatterte dann immer näher kommend das Maschinengewehrfeuer. Plötzlich muss da etwas passiert sein, denn die beiden da unten liefen schnell in Richtung Billberg hinunter. Es dauerte auch nicht lange, da sah ich die Reichwehr-Soldaten kommen. Einer von ihnen lugte vorsichtig unter dem an der Ecke befindlichen Briefkasten bei Schlachter Rebohm hervor, um in den Rahlstedter Weg hineinzusehen. … Dann hörten wir von der Rückseite unseres Hauses Schüsse aus einem Maschinengewehr. Sie kamen aus einem Schützenpanzerwagen, der auf dem Wacker-Fußballplatz (hinter Vockes Gasthof) stand. Wir konnten den Panzerwagen von unserem Küchenfenster aus gut beobachten. Ein bei uns weilendes Mädchen musste ich mit Gewalt vom Fenster reißen.“
Die noch heute unter alten Schiffbekern verbreitete Überzeugung, damals hätten Reichswehrtruppen eingegriffen, beruht wohl darauf, dass die anrückenden Polizeieinheiten mit Armeestahlhelmen ausgerüstet waren, die sie illegalerweise dem Zugriff der alliierten Kontrollkommission entzogen hatten.
Als die Orpo-Formationen in die Straßen Schiffbeks vorstießen, wurde die Bevölkerung per Megaphon gewarnt, nicht an die Fenster zu treten und diese geschlossen zu halten. Damit wurde nicht nur den Erfahrungen vom Vortag Rechnung getragen, sondern auch eine Anordnung des Generals von Tschischwitz, des Inhabers der vollziehenden Gewalt, bekanntgemacht, die bereits am 23. Oktober im Hamburger Echo zu lesen war: „Zur Wiederherstellung der Ruhe Sicherheit und Ordnung bestimme ich: Alle nach der Straße belegenen Fenster sind bis auf weiteres geschlossen zu halten. Auf offenstehende Fenster wird geschossen.“ Aus den Erfahrungen vom Dienstag kluggeworden, suchten viele Schiffbeker Bürger sogar die Kellerräume auf. Als lebendigste Erinnerung an den Aufstand ist vielen Schiffbekern noch heute im Gedächtnis, wie sie Kinder von ihren Eltern angehalten wurden, sich flach auf den Boden unterhalb der Fenster zu legen und wie sie in Angst das Ende der Schießerei abwarteten.
Lange konnten sich die Kommunisten gegen die nach Zahl und Ausrüstung überlegene Polizei nicht halten. Die von Norden angreifenden Truppenteile machten rasch Fortschritte. „Die auf der Straße Jenfeld-Öjendorf vorgehenden Kräfte fanden Öjendorf vom Gegner frei.“ Obwohl die übrigen Orpos „aus den Häusern Schiffbeks erhebliches Infanteriefeuer“ erhielten, bewährte sich die Dannersche Strategie eines Vorstoßes auf breiter Front, bei dem sich die kommunistischen Schützenstellungen vereinzelten und isolierten. „Wo Schützen erkannt wurden, wurden sie durch das bessere Schießen der Ordnungspolizei und die Maschinengewehre niedergekämpft.“ In „aufgelösten Schwärmen“ im Gelände Deckung suchend, dann wieder sprungauf, drangen die Polizeimannschaften vor und vertrieben die Kommunisten aus Häusern, Straßen und der Kirche. Den hartnäckigsten Widerstand leisteten die Aufständischen beim Amtshaus und am Schleemer Bach.
Nach Habedanks Darstellung hielt sich „dieses tapfere Häuflein“ zwei Stunden lang; laut Danner war „innerhalb einer Stunde … der ganze Ort besetzt“. Nicht nur über die Dauer der Kämpfe, sondern auch über die Art ihrer Beendigung gibt es zwei Versionen. Ob es sich bei dem Rückzug der Kommunisten nach Kirchsteinbek und Bergedorf um den geordneten Abbruch des Kampfes oder um heillose Flucht der Besiegten handelte, ist eine unterschiedlich beantwortete, das Selbstwertgefühl der beteiligten Kampfparteien noch heute tangierende Frage.
Dem Schiffbeker Kurier war es an diesem Tage gelungen, Kontakt zu einem maßgebenden Funktionär, dem Stormarner Unterbezirksleiter der KPD, herzustellen. „Ich bin dann am zweiten Tag zu dem Genossen Ludwig nach Jenfeld gefahren, der mir sagte, dass die Parteileitung den Befehl gegeben habe, den Kampf abzubrechen.“ Diesem Befehl getreu verließen die Schiffbeker Aufständischen laut Habedank ihre Stellungen, so dass die Orpo, als sie gegen 15.00 Uhr den Ort besetzte, ähnlich wie in Barmbek am frühen Morgen in eine verlassene Festung einzog. Eine andere DDR-Veröffentlichung bemüht Thälmann selbst als Leiter des organisierten Rückzugs. Es heißt dort: „Ernst Thälmann ging mit einem Begleiter in die Stellungen in Schiffbek und Bramfeld, um die Gruppen aus dem Kampf herauszuziehen. Widerstrebend aber geordnet und ohne größere Verluste lösten sich die Kämpfenden vom Gegner.“
Weniger geordnet erschien diese Absetzbewegung im Bericht der Schiffbeker Zeitung, die drei Tage danach schrieb: „Von den vor der angreifenden Sicherheitspolizei flüchtenden Kommunisten liefen einzelne Trupps quer über die Felder nach Bergedorf und Glinde zu, andere suchten nach Billwärder das Weite. Teilweise entkamen diese über den Roten Brückenweg, … einige durchschwammen sogar die Bille.“ Hannes Piehl, der mit seinen Genossen aus Bergedorf zur Unterstützung der Schiffbeker gekommen war, erinnert sich an das Ende der Kämpfe: „Da ging das Geballer auch schon richtig los. In Horn waren Panzerautos durchgebrochen. Jetzt hieß die Parole: ‚Nichts wie weg!‘ und dann sind wir getürmt. Ich lief an den Hallörs – Vater und Sohn – vorbei. Die hatten ´nen schweren Rucksack mit Handgranaten zu schleppen. Ich lief zur ‚Roten Brücke‘ in Billbrook. … Hier war gerade Anton Switalla dabei, Papiere einzusammeln. Hermann Werner und Paul Schlamann waren auch dabei und einer, den nannten sie Stanislaus, so’n Langer. Jedenfalls lief ich mit dieser ‚Führungsgruppe‘ Richtung Billwerder/Boberg. Auf halbem Weg zwischen Schiffbek und Boberg bogen die anderen Richtung Glinde/Sachsenwald ab. Einer rief mir noch zu: ‚Na dann bis morgen! Morgen greifen wir wieder an.‘ Ich dachte: So’n Quatsch, wie sollten wir denn angreifen. Die Sipo war doch lange durchgebrochen.“
So sieht es auch Danner, für den „die kommunistische Behauptung, man habe den Aufstand unbesiegt abgebrochen“, schon durch „die hartnäckige Verteidigung von Schiffbek“ widerlegt ist. Als er mit seinem Truppenteil das Amtshaus erreichte, fand er im ersten Stock des Hauses die Leiche eines Aufständischen mit Gewehr noch im Anschlag im Fenster liegen. Ein Geschoß der Polizei hatte ihn in der Stirn getroffen. Im evangelischen Gemeindehaus traf die Polizei noch einige Frauen und Mädchen beim Essenkochen an; ein Kessel mit halb gar gekochtem Reis stand auf dem Feuer und große Portionen geschälter Kartoffeln lagen bereit. Die Kreuzkirche war von den Schießereien derart in Mitleidenschaft gezogen, dass sie einstweilen nicht mehr benutzbar war und die Konfirmationsfeiern während der Renovierungszeit noch bis 1925 in die Steinbeker Kirche verlegt werden mussten.