Schiffbek im Hamburger Aufstand
(...) Einen erneuten Anlauf zur Herbeiführung einer revolutionären Situation bereitete die KPD unter Beteiligung der in Moskau ansässigen Komintern-Führung vor, nachdem ihr im Oktober 1923 in Sachsen und Thüringen die Bildung einer gemeinsamen Regierung mit der SPD geglückt war. Von Kiel und Hamburg aus, wo man auf besonders viel Unterstützung rechnete, wollte man am 23. Oktober den gewaltsamen Umsturz in Deutschland wagen. Als sich jedoch abzeichnete, daß man die Reichsregierung nicht nur nicht unvorbereitet treffen würde, sondern daß diese gar ein militärisches Vorgehen gegen die in Sachsen gebildeten "proletarischen Hundertschaften" plante, sagte man die Aktion kurzfristig ab. Nur in Hamburg kam dieses Nachricht infolge eines Fehlers in der Nachrichtenübermittlung nicht an. So wurde aus dem geplanten "Deutschen Oktober" der "Hamburger Aufstand", in dem sich Schiffbek neben Barmbek und Eimsbüttel zu einem der Hauptschauplätze und zur letzten Bastion der Umstürzler entwickelte. Im einzelnen verliefen die "Zwei Kampftage von Schiffbek" wie folgt:
In den frühen Morgenstunden des 23. Oktobers 1923 wurde der Verwalter der Gewehre der Einwohnerwehr, der Schuldiener Eisenblätter, durch eine lärmende Horde, die von ihm die Herausgabe der Waffen verlangte, aus dem Schlaf gerissen. Zunächst setzte er sich noch gegen den Versuch, seine Wohnungstür aufzubrechen, mit mehreren Pistolenschüssen zur Wehr. Die Drohung, das Haus anzustecken, veranlaßte ihn dann jedoch dazu, sich zu fügen.
Als der Ort wenig später aus dem Schlaf erwachte, hatten die Aufständischen bereits den örtlichen Polizeiposten überwältigt und die Gemeindeverwaltung, das evangelische Gemeindehaus und das Postamt besetzt. An verschiedenen Stellen hingen Plakate, die die Bevölkerung zur Ruhe sowie zur Unterstützung der Aufständischen aufriefen und mit den Worten endeten: "Es lebe Sowjetdeutschland! Es lebe das Bündnis der Sowjetstaaten der Welt! Es lebe die Weltrevolution!“
Außerdem zogen bewaffnete Patrouillen durch den Ort und versuchten, Arbeiter am Aufsuchen ihrer Arbeitsplätze zu hindern. Andere Aufständische errichteten derweil an verschiedenen Stellen Barrikaden. So wurde auf dem Rotenbrückenweg das Pflaster für die Anlage eines quer über die Straße verlaufenden Schützengrabens aufgerissen. Gleiches geschah in der Hamburgerstraße an der Horner Grenze und hinter der Einmündung des Rahlstedterweges. An der Abzweigung der Möllnerlandstraße blockierte man zudem die Straße durch quergestellte Fuhrwerke, und von Kirchsteinbek kommende Fahrzeuge wurden schon am Rotenbrückenweg mit Waffengewalt zur Umkehr gezwungen. Für das leibliche Wohl der Aufständischen, deren Zahl sich ungefähr auf 200 belief, sorgten mit ihnen sympathisierende Frauen und Mädchen, die im evangelischen Gemeindehaus eine Volksküche eingerichtet hatten und aus Lebensmitteln, die aus den Vorräten der Schulspeisung entwendet worden waren, Mahlzeiten zubereiteten.
Es dauerte bis kurz nach dem Mittag, ehe die Hamburger Sicherheitspolizei das erste Mal vorrückte. Sie näherte sich von der Wandsbeker Seite und ausgeschwärmt über die Billwiesen und wurde von den Aufständischen, die sich unter anderem auf Hausdächern und im Turm der evangelischen Kirche versteckt hatten, unter Beschuß genommen. Zwar gelang es der Polizei, bis zu dem jenseits der Gabelung von Hamburgerstraße und Möllnerlandstraße gelegenen Postamt vorzudringen, und sie konnte auch fünf Bewaffnete festnehmen, doch aufgrund ihrer zu geringen Stärke mußte sie sich dann zurückziehen. Insgesamt fanden neun Personen in dieser Auseinandersetzung den Tod: Fünf Polizeibeamte, zwei angeblich unbeteiligte Männer, die auf der Straße bzw. in einem Hausflur getroffen wurden, und zwei durch Querschläger in ihren Wohnungen ereilte Frauen. Außerdem gab es auf beiden Seiten mehrere Schwer- und Leichtverletzte.
Nachdem die Aufständischen bis zum Abend auch wieder den Schützengraben an der Horner Grenze in Beschlag genommen hatten, blieb es die Nacht über bis auf zwei kleinere Zwischenfälle ruhig: Zum einen erlitt ein mit dem Wagen von Berlin kommender Gewerkschaftsfunktionär, der auf die Haltesignale am Rotenbrückenweg nicht reagierte und daraufhin unter Beschuß genommen wurde, eine schmerzhafte Verletzung am Gesäß. Zum anderen stiftete ein Mann, der seine hochschwangere Frau am Morgen nach Hamburg ins Krankenhaus gebracht hatte, bei seiner Rückkehr Verwirrung, die jedoch schnell durch den Hausarzt aufgeklärt werden konnte. Am nächsten Morgen erhielten die Aufständischen dann Verstärkung durch 200 weitere Kommunisten, die aus Bergedorf kamen und Seitengewehre sowie einen Wagen voller Handgranaten aus Geesthacht mitbrachten. Verpflegung verschaffte man sich jetzt dadurch, daß man bei einem im Ort ansässigen Bäcker Brot beschlagnahmte.
Wieder warteten die Sicherheitskräfte mit ihrem Angriff bis zum Mittag. Doch dann rückten sie mit Unterstützung der Reichswehr wesentlich entschlossener vor: Zunächst überflogen zwei Flugzeuge mehrfach in niedriger Höhe die Ortschaft, um sich ein Bild von die Lage zu verschaffen. Die Aufständischen eröffneten auf sie ebenso das Feuer wie auf die kurz darauf von einer Barkasse in den Schiffbeker Wiesen abgesetzten Beamten. Zum Zusammenbruch ihres Widerstandes kam es erst, als vier Panzerautos, für die auch die mittlerweile auf Höhe des Jenkelschen Hauses quer über die Straße gelegten Baumstämme kein Hindernis darstellten, aus verschiedenen Richtungen in den Ort eindrangen und den Beschuß durch die Aufständischen mit Maschinengewehrsalven erwiderten. Die Aufständischen flohen nun in kleinen Gruppen in Richtung Bergedorf und Billwärder, wo sie sich mit der nachsetzenden Polizei noch wiederholt Schußwechsel lieferten, bei denen viele von ihnen den Sicherheitskräften in die Hände fielen. Einer größeren Gruppe gelang es allerdings, in Richtung der Oher Tannen zu entkommen.
Und auch Schiffbek selbst wurde nun auf der Suche nach Aufständischen durchkämmt. Daß die Polizeikräfte dabei vielfach mit großer Härte vorgingen, lag vor allem daran, daß die Aufständischen bei ihrem Rückzug den ortsansässigen, an den Kämpfen selbst nicht beteiligten Polizisten Johannsen, der ihnen bereits am Vortag in die Hände gefallen war, trotz der Fürsprache vieler Einwohner auf dem Kirchsteinbeker Friedhof kaltblütig ermordet hatten. Nachdem man die gefaßten Teilnehmer des Aufstandes im Gemeindehaus zusammengebracht hatte, wurden sie nach und nach per LKW nach Hamburg transportiert.
Während der Leiter der Schiffbeker KPD-Ortsgruppe Anton Switalla der Polizei im Mai 1924 in die Hände fiel, konnte der Führer ihres militärischen Ordnungsdienstes Fiete Schulze nach Chile entkommen. Ab Februar 1925 mußten sich dann insgesamt 191 Personen wegen ihre Beteiligung an den Schiffbeker Unruhen vor dem Altonaer Landgericht verantworten. Aus Schiffbek allein hatten sich im September 1924 noch 75-80 Personen in Untersuchungshaft befunden. Die Anklage lautete auf Hochverrat bzw. Beihilfe zum Hochverrat, und fast alle wurden für schuldig befunden und zu Festungshaft von 1 bis 5 Jahren verurteilt; insgesamt verhängte das Gericht 324 Jahre Haft.
Wie groß die Unterstützung für die Aufständischen in Schiffbek gewesen sein dürfte, wird daran deutlich, daß die KPD im Mai 1924 bei den Gemeindevertreterwahlen mit 32,4 % der abgegebenen Stimmen zur stärksten Partei wurde. (...)