Eine kleine Billstedter Migrationsgeschichte
Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war der intensivere Kontakt mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen für die Bewohner der drei Dörfer Schiffbek, Kirchsteinbek und Öjendorf, die im Jahr 1927 zu Billstedt zusammengefasst und im Jahr 1937 nach Hamburg eingemeindet wurden, eine seltene Ausnahme. Am ehesten kamen Fremde im Zuge von kriegerischen Auseinandersetzungen in größerer Zahl und für längere Zeit hierher. Beispielsweise in der Zeit der französischen Besetzung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Bauern während der russischen Belagerung Hamburgs im Jahr 1813 nicht nur ihr Vieh und ihre Vorräte einbüßten, sondern auch für mehrere Monate russische Soldaten bei sich aufnehmen mussten, die Hufner jeweils zwanzig, die Halbhufner jeweils zehn und die Kätner jeweils fünf. Oder während des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71, als auf dem Louisenhof französische Kriegsgefangene interniert wurden und in dieser Zeit den großen Eiskeller errichteten, der bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus als Räucherei genutzt wurde.
Ansonsten gab es vereinzelt wohlhabende Ausländer, die gewöhnlich in Hamburg lebten und eines der primär oder ausschließlich als Landsitz genutzten, meist besonders schön gelegenen und ausgestatteten Häuser in einem der drei Dörfer bewohnten, etwa eine fünfköpfige Familie aus London, die sich in der Schiffbeker Volkszählungsliste von 1860 findet oder der 26jährige George Thornton, der aus Westindien stammte und zur gleichen Zeit Besitzer einer Kate in Öjendorf war. Selbst Katholiken fanden sich zu dieser Zeit – abgesehen von einem Schustergesellen in Schiffbek – nicht. Daneben gab es noch einen Wundarzt in Schiffbek und eine weitere Familie in Kirchsteinbek, die sich zur reformierten Kirche bekannten, und die bereits erwähnte Familie aus London gehörte der „englischen Kirche“ an. Die übrige Einwohnerschaft der drei Dörfer war evangelisch-lutherisch.
Und nicht nur das, sie stammte auch fast ausschließlich aus der näheren Umgebung. Von den Hauseltern der 128 Haushaltungen, die im Jahr 1860 in Schiffbek ermittelt worden waren, stammten nicht weniger als 29% aus Schiffbek und dem unmittelbar angrenzenden Schleems, das ab dieser Zeit zunehmend zu Schiffbek gerechnet wurde. Weitere 16% entfielen auf das übrige Kirchspiel Steinbek, zu dem auch Schiffbek und Schleems eingepfarrt waren, 13% auf das übrige Amt Reinbek, der Schiffbek und Schleems übergeordneten Verwaltungseinheit, 4% auf das benachbarte Amt Trittau, 8% auf das restliche Herzogtum Holstein, zu dem Schiffbek und Schleems damals gehörten, 4% auf das benachbarte Herzogtum Lauenburg, 2% auf das sonstige Königreich Dänemark, dem die drei deutschen Herzogtümer Holstein, Lauenburg und Schleswig damals unterstanden, 12% auf das unmittelbar südlich und westlich angrenzende Hamburg, 3% auf das südlich der Elbe beginnende Königreich Hannover, 3% auf das Großherzogtum Mecklenburg, 1% auf das Königreich Preußen. Bei den verbleibenden 5% war größtenteils eine territoriale Zuordnung aufgrund des angegebenen Geburtsorts nicht möglich. Doch auch so gibt diese Übersicht ein sehr gutes Bild davon, in welch hohem Maße die Einwohnerschaft von Schiffbek und Schleems zu dieser Zeit hinsichtlich ihrer Herkunft homogen war. Ganz ähnlich verhielt es sich im Übrigen auch in Kirchsteinbek und Öjendorf.
Zumindest für Schiffbek änderte sich dies schlagartig zu Beginn der 1880er Jahre mit der in dieser Zeit auch am Unterlauf der Bille einsetzenden Industrialisierung. Nachdem bereits ab den 1850er Jahren am gegenüberliegenden Billdeich vereinzelt Fabriken entstanden waren und Schiffbek im Jahr 1876 mit der dampfbetriebenen Farbholzmühle am Fuße des Spökelbergs seine erste industrielle Produktionsstätte erhalten hatte, errichtete eine kurz zuvor in Hamburg gegründete Aktiengesellschaft in den Jahren 1883/84 in unmittelbarer Nachbarschaft und ebenfalls am Billeufer eine Jutespinnerei und -weberei. Während die Farbholzmühle anfangs lediglich 17 Arbeitskräften beschäftigt hatte, handelte es sich bei dieser Fabrik von Beginn an um einen Großbetrieb. Zunächst war sie auf 500 Beschäftigte ausgelegt, später steigerte sie ihre Belegschaft auf über 1.500 Personen. Da Schiffbek zu dieser Zeit nur 980 Einwohner zählte (und Kirchsteinbek und Öjendorf noch kleiner waren), konnte das Werk die erforderlichen Arbeitskräfte unmöglich vor Ort akquirieren. Deshalb ließ das Unternehmen von Agenten insbesondere in ländlichen Gebieten des Habsburgerreichs junge, meist unverheiratete Männer und Frauen anwerben.
Zunächst wurde diese in Baracken in unmittelbarer Nähe zur Fabrik untergebracht. In den Jahren 1888 sowie 1891-1894 errichtete das Unternehmen dann oberhalb der Fabrik im Bereich der heutigen Reclamstraße eine Arbeiterkolonie mit 166 Wohnungen, die in sechs ein- und zweigeschossigen Zeilenbauten untergebracht waren. Da viele der Arbeiter bald heirateten und Familien gründeten, schuf die Firma außerdem an der heutigen Billstedter Hauptstraße einen weiteren zweigeschossigen Bau, der abends und nachts als Schlafsaal für unverheiratete Arbeiterinnen und Arbeiter und tagsüber als Kindergarten und Warteschule genutzt wurde. Auf diese Weise wollte sich das Unternehmen auch die verheirateten Frauen als Arbeitskräfte erhalten, indem es sie ein Stück weit von ihren häuslichen Aufgaben entlastete.
Im Jahr 1907, als Schiffbek bereits 8.187 Einwohner zählte, wurden hier annähernd eintausend Ausländer ermittelt. Im Einzelnen waren es 944 Österreicher, 11 Russen und 22 sonstige Ausländer wie Dänen, Schweden, Schweizer und Holländer. Die aus dem Habsburgerreich angeworbenen Arbeitskräfte legten auch den Grundstock für die noch heute große katholische Gemeinde in Billstedt. Begründet wurde sich durch drei Familien, die sich zunächst zur Kirchengemeinde in Wandsbek orientiert hatten, sich dann jedoch eigenständig organisierten. Im Jahr 1895 konnte am heutigen Hertelstieg eine erste Notkirche eingeweiht werden. Bei der Volkszählung im Dezember 1910, als in Schiffbek insgesamt 9.574 Einwohner ermittelt wurden, waren nicht weniger als 3.262 von ihnen katholisch. Das entsprach 34% der Gesamtbevölkerung und 56% aller zu dieser Zeit im Kreis Stormarn lebenden Katholiken. Zur gleichen Zeit wurden hier 6.263 Mitglieder der evangelischen Landeskirche, 4 andere Christen, 4 Juden sowie 34 Menschen sonstiger oder unbekannter Konfession ermittelt. Vier Jahre später soll sich die Zahl der Katholiken dann sogar auf 4.000 belaufen haben, während die Einwohnerzahl nicht weiter zugenommen hatte. im Jahr 1929 siedelte die katholische Gemeinde Billstedts in den schlichten, im Stil des Neuen Bauens errichteten Kirchenbau am Öjendorfer Weg über. Der alte Kirchensaal wurde fortan von der benachbarten Gemeindeschule als Turnhalle genutzt.
Die angeworbenen Arbeitskräfte aus Österreich stammten überwiegend aus polnischen, böhmischen, mährischen und ungarischen Gebieten und bescherten dem Ort eine große kulturelle Vielfalt. Lange hielten die Zuwanderer an ihren Gebräuchen, ihrer vielfach farbenfrohen Kleidung und an ihrer Muttersprache fest. Über letzteres gibt unter anderem eine Statistik der katholischen Abteilung der Schiffbeker Gemeindeschule, die seit 1906 über ein eigenes Gebäude verfügte und acht Jahre später in die Eigenständigkeit überführt wurde, aus dem Jahr 1910 Aufschluss. Von den 539 Kindern, die sich auf neun Klassen verteilten, sprachen in ihrer Familie 136 nur deutsch, 181 nur polnisch, 124 polnisch und deutsch, 7 nur mährisch, 17 mährisch und deutsch, 41 nur tschechisch, 22 tschechisch und deutsch, 6 nur ungarisch, 3 deutsch und ungarisch sowie zwei nur rumänisch. Die Zuwanderer organisierten sich in mehreren Vereinen, so in dem Geselligkeitsklub Deutsch-Österreich und in dem tschechischen Verein „Lidumil“, was „Menschenfreund“ bedeutet. Daneben fielen sie allerdings angeblich auch stärker als andere durch Schlägereien auf, bei denen häufig auch die Verwendung von Messern zu schweren Verletzungen führte. Als die Jutespinnerei und -weberei im Herbst 1904 dann einmal gut fünfzig Arbeiterinnen aus dem schottischen Dundee, dem europäischen Hauptumschlagplatz für Jute, nach Schiffbek holte und ein Großteil von ihnen nach kurzer Zeit wieder abreiste, schrieb der Lokal-Anzeiger: „Mancher Einwohner wird darob erleichtert aufatmen, denn die durch gedachte Frauenzimmer hier geübten Straßentreibereien mit mancherlei widerlichen Exzessen dürften nunmehr ein Ende erreicht haben, da die hier noch in Arbeit gebliebenen Töchter Albions einer besseren Sorte anzugehören scheinen.“
Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs verließen zahlreiche polnische und tschechische Familien Schiffbek und kehrten in ihre Herkunftsgebiete zurück. Dieser Fortzug vielfach kinderreicher Familien setzte sich auch in den 1920er Jahren fort und hatte sicherlich seinen Anteil daran, dass die Einwohnerzahl Schiffbeks bis 1925 auf 8.776 zurückging und die katholische Gemeinde bis 1929 auf etwa 2.500 Mitglieder schrumpfte. Auf der anderen Seite brachte der Erste Weltkrieg auch neue Bewohner ins heutige Billstedt. So erreichte im November 1914 mitten in der Nacht ein Zug den Bahnhof Schiffbek-Kirchsteinbek, der Flüchtlinge aus Ostpreußen hierherbrachte, nachdem dort die russische Armee eingefallen war. 107 Flüchtlinge kamen nach Schiffbek, eine geringere Zahl nach Kirchsteinbek und Öjendorf. Wenig später wurden noch einmal mehr als tausend Flüchtlinge auf die Orte entlang der Südstormarnschen Kreisbahn verteilt. Der Umstand, dass im Jahr 1921 in Schiffbek ein Ortsverein der heimattreuen Oberschlesier gegründet wurde, weist zudem darauf hin, dass auch aus diesem Gebiet eine kriegsbedingte Zuwanderung stattgefunden hat.
Sowohl während des Ersten Weltkriegs als auch während des Zweiten Weltkriegs kamen zudem abermals zahlreiche Kriegsgefangene nach Schiffbek, Kirchsteinbek und Öjendorf. Sie wurden insbesondere während des Zweiten Weltkriegs in eigens hierfür eingerichteten Lagern untergebracht. Beispielsweise quartierte man damals auf dem Louísenhof französische Kriegsgefangene ein, die in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Am Querkamp in der Horner Geest bestand zudem ein Lager für russische Kriegsgefangene.
Weitaus größeres Gewicht hatten allerdings die Zwangsarbeiter, die nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 aus den besetzten Gebieten ins Deutsche Reich verschleppt wurden, um hier die wirtschaftliche Produktion am Laufen zu halten. Überwiegend handelte es sich bei ihnen um jüngere Menschen, die nun nicht nur fern ihrer Heimat mit vielfach schwerer körperlicher Arbeit ausgebeutet wurden, sondern auch mit Misshandlung und Mangelernährung konfrontiert und vom Tod bedroht waren. Insgesamt geht man von bis zu 20 Millionen Zwangsarbeitern aus.
Vielfach wurden die Zwangsarbeiter auf dem Gelände der Betriebe, bei denen sie eingesetzt wurden, oder aber in den Sälen von Gastwirtschaften untergebracht. Ein solches Firmenlager bestand beispielsweise bei der Jutespinnerei und -weberei in Schiffbek. Lager für Zwangsarbeiter in Gastwirtschaften waren in Schiffbek bei Vocke, in Öjendorf bei Wulff und in Kirchsteinbek bei Ritscher sowie bei Neubauer eingerichtet. Darüber hinaus existierten in Billbrook gleich mehrere Dutzend Lager für Zwangsarbeiter. Neben der unmittelbaren Unterbringung auf dem Betriebsgelände gab es hier auch eigenständige, zum Teil erst für die Einquartierung von Zwangsarbeitern errichtete Lagerkomplexe. Die dort untergebrachten Menschen wurden dann gewöhnlich bei verschiedenen Unternehmen eingesetzt. In einigen dieser Zwangsarbeiterlager lebten mehrere hundert Personen: So bestand vom September 1941 bis zum Februar 1945 an der Berzeliusstraße 88-90 das sogenannte „Flakturmlager“ mit mehreren Baracken, einer eigenen Küche und bis zu 489 Essensteilnehmern. Die hier untergebrachten Zwangsarbeiter wurden bei der Stahlbaufirma Eggers, bei dem Bauunternehmen Dyckerhoff & Widmann und bei der Hamburger Feuerschutzpolizei eingesetzt. In unmittelbarer Nachbarschaft in der Liebigstraße 86/88 existierte von August 1940 bis November 1944 auf dem Gelände der Firma Schlochauer Nachf. ein unbewachtes Lager mit fünf Holzbaracken für 461 ausländische Männer und Frauen. Das Unternehmen Hans Still verfügte über ein Lager mit neun Baracken und eigener Küche, in dem im November 1944 neben 361 sowjetischen Personen 69 sonstige Essensteilnehmer erfasst wurden. Sogar über tausend Zwangsarbeiter waren schließlich im sogenannten „Funkturmlager“ am Unteren Landweg untergebracht. Dieses war im Jahr 1940 zunächst für Arbeiter der Reichsbahn errichtet worden, die damals die Güterumgehungsbahn bauten. Es bestand aus 34 Baracken, verfügte ebenfalls über eine eigene Küche und verzeichnete von Juli 1941 bis April 1945 bis zu 1.108 Essensteilnehmer. Beschäftigt wurden die hier untergebrachten Menschen beim Roststabhaus Silex, der Saarländischen Hoch- und Tiefbauunternehmung Flach & Co., der Farbenfabrik Reichhold, Flügger & Brecking, der Bauunternehmung Stolze, dem Abbruchunternehmen Heuer, der Werft Blohm & Voss sowie der städtischen Gesamthafenbetriebsgesellschaft.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren auch zwei jüdische Familien nach Schiffbek eingewandert. Simon und Paula Laser, die aus Pommern und Westpreußen kamen, betrieben seit 1907 an der Legienstraße ein Bekleidungsgeschäft, das später in die Hamburger Straße, die heutige Billstedter Hauptstraße verlegt wurde. David und Roline Isenberg, deren Familien aus Bremke bei Göttingen stammten, eröffneten vermutlich im Jahr 1915 in Schiffbek ein Schuhgeschäft. Außerdem befand sich die Billbrooker Großwäscherei J.H.C. Karstadt-Porges seit dem Jahr 1918 im Besitz der jüdischen Eheleute Clara und Theodor Tuch, von denen letzterer dort bereits ab dem Jahr 1892 als Prokurist fungiert hatte. Ab der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 sahen sie sich aufgrund ihres Glaubens vielfältigen Diskriminierungen und einer zunehmenden Entrechtung ausgesetzt. Bereits Anfang April 1933 wurde zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen. Die Abwanderung von Kunden und der Entzug von Aufträgen setzten den Firmen zu. Die in den Jahren 1861 und 1872 geborenen Eheleute Isenberg gaben ihr Geschäft bereits im Jahr 1934 auf und zogen nach Harvestehude. Das Ehepaar Laser musste sein Geschäft im Jahr 1938 schließen und siedelte mit zwei seiner Kinder ins Grindelviertel über. Für das Gebäude, in dem sie gelebt und gearbeitet hatten und das ein Jahr später für eine Straßenverbreiterung abgebrochen wurde, erhielten sie keine Entschädigung. Das Unternehmen J.H.C. Karstadt-Porges wurde im Jahr 1939 arisiert, und Theodor und Clara Tuch, die im Jahr 1934 auf das Firmengelände gezogen waren, nachdem sie zuvor im Hamm gewohnt hatten, wurden nun bei einer Lehrerin in Volksdorf einquartiert. Die Familie Laser war schon bald auf Wohlfahrtsunterstützung angewiesen, die wohlhabenden Ehepaare Isenberg und Tuch sahen sich mit vielfältigen rigiden Beschränkungen bei der Nutzung ihres Vermögens konfrontiert. Anfang Dezember 1941 wurden Simon und Paula Laser dann mit annähernd tausend weiteren Hamburger Juden nach Riga deportiert und dort mutmaßlich bald nach ihrer Ankunft ermordet. Die Ehepaare Tuch und Isenberg brachte man im Juli 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt. Für die ersteren folgte im September 1942 der Weitertransport in das Vernichtungslager Treblinka, wo sie vermutlich in den dortigen Gaskammern den Tod fanden. David Isenberg verstarb im Februar 1943 in Theresienstadt, seine Frau Roline ein Jahr später. Der im Jahr 1908 geborene Sohn Max Laser und seine im Jahr 1919 geborene Schwester Liselotte starben noch vor der Deportation ihrer Eltern nach Riga infolge der elenden Lebensumstände im Grindelviertel an Lungenentzündungen, während ihrem im Jahr 1915 geborenen Bruder Rudi im Jahr 1938 die Flucht nach Argentinien gelang. Die Im Jahr 1901 geborene Tochter Edith der Eheleute Tuch emigrierte im Jahr 1939 mit ihrem Mann Otto Erich Blumenthal nach New York und erhielt nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Hälfte des ehemals elterlichen Unternehmens rückerstattet. Über das Schicksal ihres im Jahr 1898 geborenen Bruders Hans ist nichts bekannt.
Der Großteil der Zwangsarbeiter kehrte nach Ende des Zweiten Weltkriegs in seine Heimat zurück. Doch nicht wenige blieben auch hier. Noch im Jahr 1956 lebten etwa tausend Personen im Funkturmlager. Zu den ehemaligen Zwangsarbeitern, die man jetzt als „Displaced Persons“ bezeichnete, kamen nun Heimatvertriebene und Flüchtlinge hinzu. Zeitweilig lebten hier Personen aus 16 Nationen unter sehr beengten Verhältnissen zusammen. Der Billstedter Anzeiger berichtet: „Manchmal hatte es die Lagerleitung sehr schwer, für Ordnung zu sorgen, und es gab Monate, in denen täglich einmal der Peterwagen zu Hilfe gerufen werden mußte, um Streitigkeiten zu schlichten. Das ist besser geworden. Doch ist noch manches Problem zu lösen, damit den Menschen, die hier wohnen, ihr Los erleichtert werden kann. Viele sind schon seit Jahren hier ansässig und fühlen sich anscheinend ganz wohl. Sie zahlen einen so geringen Mietzuschuß (bis zu 0,75 DM je Quadratmeter, einzelnstehende Personen monatlich 4 bis 5 DM, Familien bis zu 20 DM), daß sie gar nicht in eine Neubauwohnung umziehen möchten. Die meisten Lagerinsassen arbeiten und verdienen recht gut. Sie haben sich Fernsehgeräte, Musiktruhen und Mopeds angeschafft, aber sie begnügen sich sonst mit ganz bescheidenem Mobiliar. In einer Kantine und nahegelegenen Geschäften können sie alles, was sie zum Leben brauchen, kaufen. Jeder verpflegt sich selbst. Auch die hygienischen Verhältnisse haben sich gebessert. Und doch sollte man danach trachten, daß dieses aus der Not des Krieges entstandene Lagerleben am Funkturm bald endgültig beendet werden kann.“
Zahlreiche Menschen, die nach Kriegsende zunächst im Funkturmlager untergekommen waren, errichteten sich westlich des Lagers sowie jenseits des südlich angrenzenden Industriekanals in den beiden Kleingartenkolonien Aufbau und Neuland Behelfsheime. Insgesamt umfassten sie mehrere hundert Parzellen. Nachdem die Stadt mit dem Aufbauplan aus dem Jahr 1960 beschlossen hatte, auch den südlichen Teil von Billbrook für die Ansiedlung von Industriebetrieben herzurichten, wurden diese Siedlungskolonien ebenso wie das Funkturmlager bis Ende des Jahrzehnts aufgelöst.
Ab Anfang der 1950er Jahre bemühte sich die Stadt Hamburg darum, die Gruppe der Sinti und Roma aus der inneren Stadt an den Stadtrand zu verlagern. Diese im 7. Jahrhundert aus Indien nach Europa eingewanderte Bevölkerungsgruppe, die am Rande der Gesellschaft lebte, in größeren Familienverbänden mit Wohnwagen durch das Land zog und vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt war, war in der Zeit des Nationalsozialismus systematisch verfolgt und in Konzentrationslagern eingesperrt worden, wobei viele von ihnen den Tod fanden. Überlebende hatten sich nun mit ihren Wagen in St. Georg, St. Pauli und Altona niedergelassen. Im Jahr 1951 gab es einen ersten Vorstoß, sie nach Boberg umzusiedeln, wogegen sich diese über ihren Verband zur Wehr setzen wollten. Im Jahr 1958 stellte man dann Überlegungen an, an der Grusonstraße in Billbrook auf einem Gelände, auf dem kurz zuvor ein Barackenlager beseitigt worden war, einen Abstellplatz für mindestens 100 Wohnwagen einzurichten. Einmütig sprach sich der Ortsausschuss Billstedt hiergegen aus, und der Billstedter Anzeiger schrieb: „Es genügt nicht, die Wohnwagen aus dem Gesichtskreis der Öffentlichkeit wegzubringen und dann, an anderer Stelle massiert, neue Slums entstehen zu lassen, die sich in einem Stadtteil wie Billstedt besonders unangenehm auswirken, weil hier schon durch verstärkte Ansiedelung sozial schwacher Familien genügend Notstand vorhanden ist. Völlig unverständlich erscheint, daß daran gedacht ist, Wohnwagen am Tidekanal unmittelbar neben dem Funkturm aufzustellen, obwohl man diese Fläche erst planieren und mit einem Siel versehen müßte. Aber gegen den Platz an der Grusonstraße bestehen hygienische Bedenken, weil sich Flachbrunnen der Hamburger Wasserwerke dort befinden. Auch dieses Gelände ist jedoch bereits als Industriegebiet ausgewiesen. Kann man daher verantworten, mit erheblichen Kosten dort einen Wohnwagenplatz einzurichten?“ In einer einstimmig angenommenen Resolution plädierte der Billstedter Ortsausschuss stattdessen dafür, „für den betroffenen Personenkreis geeignete Wohnungen zur Verfügung“ zu stellen. Und so kam es dann tatsächlich auch: Nachdem die Wohnwagen zunächst noch übergangsweise auf einer Fläche am Mattkamp in Öjendorf aufgestellt worden waren, zogen ihre Bewohner wenig später in frisch fertiggestellte kleine Reihenhäuser in Cottaweg und Dudenweg. Für die Kinder der Nachbarschaft ging von dem bunten Treiben vor den Häusern mit offenstehenden Türen eine erhebliche Faszination aus. Doch mit den Bewohnern war auch nicht zu spaßen. Wer ihnen zu nahe kam, musste auf massive Gegenwehr gefasst sein. So fuhren Ende der 1960er Jahre einmal Bewohner des Cottawegs, nachdem einer von ihnen attackiert worden war, mit einigen Wagen vor einer Rocker-Kneipe in Glinde vor und gaben mehrere Schüsse ab, von denen einer tödlich war.
Ab Mitte der 1950er Jahre schloss die Bundesrepublik Deutschland mit verschiedenen südeuropäischen und nordafrikanischen Ländern Verträge über die Anwerbung von Arbeitskräften. Da man davon ausging, dass diese nach einigen Jahren in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden, sprach man auch von „Gastarbeitern“. Den Anfang machte im Jahr 1955 ein Abkommen mit Italien, im Jahr 1960 folgten Spanien und Griechenland, 1961 die Türkei, 1963 Marokko, 1964 Portugal, 1965 Tunesien und 1968 Jugoslawien. Anfang der 1970er Jahre bildeten dann die sogenannten Gastarbeiter bereits die größte Gruppe unter den 113.000 in Hamburg lebenden Ausländern. Während das konsularische Korps auf knapp 50.000 Personen kam, brachten sie es auf insgesamt 65.791. Das entsprach etwa 7% aller in Hamburg beschäftigten Menschen. Im Einzelnen handelte es sich um 20.000 Türken, 15.000 Jugoslawen, 8.800 Griechen, 7.550 Italiener sowie in kleinerem Umfang Portugiesen, Marokkaner und Tunesier. Ansonsten hatte man zu diesem Zeitpunkt 6.400 Österreicher, knapp 4.800 Skandinavier, 4.000 Briten, fast 3.000 Amerikaner, 1.500 Franzosen, 1.500 Japaner, 350 Ungarn und 260 Sowjetrussen erfasst.
Größtenteils wohnten die angeworbenen Arbeitskräfte in Gemeinschaftsunterkünften direkt auf dem Firmengelände oder aber in gesondert von den Arbeitgebern bereitgestellten Gebäuden. Im Jahr 1972 lebten in Billbrook 800 Gastarbeiter in massiven Bauten und 600 in Baracken. Allein das Unternehmen Still, das im Jahr 1961 die ersten zwanzig türkischen Arbeitskräfte eingestellt hatte, zählte zu diesem Zeitpunkt 415 Gastarbeiter. Unter ihnen befanden sich alleine 335 Türken, von denen bereits einige auf eine über zehnjährige Betriebszugehörigkeit zurückblicken konnten. Als der türkische Arbeitsamtsdirektor in diesem Jahr in Hamburg zu Gast war, stattete er seinen Landsleuten bei Still einen Besuch ab.
Wohnunterkünfte für Gastarbeiter außerhalb des Firmengeländes befanden sich häufig in heruntergekommenen, mitunter abbruchreifen Gebäuden. Beispielsweise erwarb das Abbruchunternehmen Kriegeris Anfang 1970 an der Horner Landstraße ein gründerzeitliches Mietshaus mit 14 Wohnungen, das infolge der dortigen Straßenbauarbeiten in einer tiefen Grube stand und bei dem starke Regenfälle regelmäßig zu einer Überflutung des Kellers führten. Das Wasser stand dort dann mitunter 40 Zentimeter hoch, und da das Haus lediglich über ein Mischwassersiel für Regen- und Abwasser verfügte, trieben auch Exkremente in der schmutzigen Brühe. Zwar sollte das Haus abgebrochen und durch einen achtgeschossigen Büroneubau ersetzt werden, doch angesichts der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt war es schwierig, für die Bewohner neue Unterkünfte zu finden. Zugleich vermietete das Unternehmen allerdings die freiwerdenden Wohnungen an die Familien von bei ihm beschäftigten Gastarbeitern. Zwar waren die Mieten mit 75 Mark für eine unmöblierte und 100 Mark für eine möblierte Wohnung recht moderat, doch zugleich waren sie auch sofort kündbar. Gleichfalls möblierte Wohnungen vermietete ein Makler an der Manshardtstraße an Gastarbeiter. In Schiffbek diente zum Beispiel der um das Jahr 1870 errichtete, nahe der Einmündung des Schiffbeker Wegs gelegene Margarethenhof, ein ehemaliger Bauernhof, bis zu seinem Abriss im Jahr 1971 zur Unterbringung von Gastarbeitern. Ebenso verhielt es sich mit dem Hof des Bauern Prahl an der Archenholzstraße, der noch bis zum Bau der U-Bahn-Trasse nach Billstedt Mitte der 1960er Jahre betrieben worden war. Hier vermietete man das Dachgeschoss an italienische Arbeitskräfte, ehe das Gebäude Anfang der 1970er Jahre einem modernen Apartmenthaus wich. 25 Portugiesen waren unterdessen im Alten Krug in Kirchsteinbek untergebracht, der im Jahr 1624 gegründet worden war, sich von 1788 bis 1958 im Besitz der Familie Ritscher befunden hatte und im Jahr 1971 der Brandstiftung durch einen abgewiesenen Gast zum Opfer fiel. Daneben kamen die Gastarbeiter aber auch alleine oder mit ihren Familien bei Privatvermietern in Einliegerwohnungen oder in nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Behelfsheimen unter.
Bereits seit 1960 betrieb der Unternehmer Curt C. Schlüter im Billehof eine Unterkunft für 300 Gastarbeiter. In den Jahren 1972/73 ließ er dann am Billstieg im Nordosten des Industriegebiets Billbrook auf einem 15.300 Quadratmeter großen Grundstück nach Plänen der Architekten Nagel und Allers ein weiteres Wohnheim für 811 Gastarbeiter errichten. Wollte man zunächst noch bis zu acht Personen in einer Wohnung und bis zu vier Personen in einem Zimmer unterbringen, wobei die Betten maximal zweistöckig sein und die Fläche pro Bewohner mit zwölf Quadratmetern noch deutlich über den gesetzlich vorgeschriebenen acht Quadratmetern liegen sollte, wurden in dem bis zu siebengeschossigen Komplex schließlich 186 Wohnungen mit Küche, Duschbad und WC für maximal fünf Bewohner geschaffen. Den Bewohnern standen nunmehr 14 Quadratmeter pro Kopf zur Verfügung, und ihnen wurden neben der Unterkunft großzügige Freiflächen mit Spielgelegenheiten, Gemeinschaftsräume zum Lesen, Spielen, Basteln, Werken und Fernsehen, ein eigenes, 150 Quadratmeter großes Schwimmbad mit Sauna, eine Kantine, in der auf landestypische Vorlieben Rücksicht genommen wurde, sowie eine Tiefgarage mit 104 Stellplätzen geboten. Untergebracht werden sollten hier zunächst nur ledige Männer und Frauen. Im Falle eines späteren Familiennachzugs bestand die Möglichkeit, mehrere Wohnungen zu größeren Einheiten zusammenzulegen.
Es handelte sich hierbei um ein in Europa damals einzigartiges Projekt, das vom Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung als modellhaft anerkannt und von der Bundesrepublik mit einem Darlehen in Höhe von 18 bis 20 Millionen Mark gefördert wurde. Gleichwohl seitens der CDU im Ortsausschuss Billstedt Vorbehalte gegenüber einer derartigen Massierung von Ausländern unterschiedlicher Nationalität in einer Art Ghetto, in dem sie unter sich bleiben und nur wenig Kontakt mit der deutschen Bevölkerung haben, artikuliert wurden und auf den zu erwartenden Familiennachzug sowie die damit verbundenen und schwer zu lösenden schulischen Probleme hingewiesen wurde, fand das Vorhaben dank der geschlossenen Zustimmung der SPD-Abgeordneten eine Mehrheit. Ausschlaggebend war dabei unter anderem, dass es noch auf Jahre hinaus in Hamburg keinen ausgeglichenen Wohnungsmarkt geben würde und es schon jetzt insbesondere mit der Unterbringung von jungen Familien, Kinderreichen, alten Leuten, sozial Schwachen und Ausländern Probleme gab.
Bereits beim Richtfest waren 310 Bettplätze in dem Komplex belegt. Unter den Bewohnern waren zu diesem Zeitpunkt fünf verschiedene Nationalitäten vertreten: Es gab Jugoslawen, Türken, Griechen, Portugiesen und Spanier. Die Mietverträge schloss der Betreiber direkt mit den Arbeitgebern der Gastarbeiter, die auch die Mietzahlung übernahmen. Dadurch wollte man potenziell schwierige Verhandlungen mit den Bewohnern vermeiden. Die monatliche Miete belief sich auf 160 Mark, für Wäsche und andere Dienstleistungen fielen weitere 30 Mark an. Die größten Kontingente entfielen damals auf die SE-Fahrzeugwerke (Still), die Oberpostdirektion, Blohm & Voss, die Howaldtswerke, die Firma Niko Lafrentz und den Hamburger Verkehrsverbund. Auch das Unternehmen Carl C. Schlüter wollte hier 100 bis 150 seiner ausländischen Arbeitskräfte unterbringen.
Zeitgleich mit dem Bauvorhaben von Carl C. Schlüter ließ die GesamthafenbetriebsGesellschaft in der Halskestraße am Südostende Billbrooks ein weiteres Wohnheim für 280 portugiesische Gastarbeiter errichten. Sie beschäftigte zu diesem Zeitpunkt insgesamt 450 ausländische Arbeitkräfte, von denen jeweils 60 in zwei Unterkünften in Eidelstedt und Großhansdorf untergebracht waren. Weitere 80 bei dem städtischen Unternehmen beschäftigte Gastarbeiter lebten, teilweise zusammen mit ihren Familien, in Privatwohnungen. Das Wohnheim an der Halskestraße umfasste 140 Doppelzimmer mit einer Größe von 16 Quadratmetern. In den Waschräumen war für jeweils fünf Personen ein Waschbecken vorhanden und für zwanzig Personen eine Dusche. Daneben gab es eine Waschküche, Trocken- und Abstellräume und auf allen Etagen eingerichtete Küchen mit jeweils einer Kochstelle für zwei Personen sowie einen 48 Quadratmeter großen Tagesraum mit Fernsehgeräten. In der Kantine bestand die Möglichkeit, sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Und schließlich verfügte das Gebäude auch über ein Arztzimmer, zwei Krankenzimmer mit jeweils drei Betten und ein Dolmetscherzimmer. Pro Person waren dies 15 Quadratmeter Wohn- und Nutzfläche. Dies entsprach den neuesten Baurichtlinien und wurde durch Bauzuschüsse aus öffentlichen Mitteln gefördert. Eine Unterbringung von Familien war nicht vorgesehen. Die Gesamtkosten für den Komplex, der ebenso wie die Unterkunft am Billstieg auf Pfählen gegründet werden musste und auch noch ein Verwaltungsbüro, eine Hausmeisterwohnung, 34 PKW-Stellplätze sowie vier Garagen umfasste, belief sich ohne den Grunderwerb auf 5,2 Millionen Mark.
Für die bessere Integration der Gastarbeiter wurde vom Hamburger Senat ein Verwaltungsausschuss „Ausländische Arbeitnehmer“ eingerichtet, der bei allen Fragen der Eingliederung Einfluss nehmen sollte. Insbesondere wollte man das Angebot an Sprachkursen in den Betrieben, in der Volkshochschule und bei den Betreuungsverbänden ausbauen. Über die Gastarbeiter selbst erfährt man aus dem Billstedter Anzeiger recht wenig. Einmal wird im Jahr 1971 berichtet, dass sich bei der Firma Rheinstahl-Eggers-Kehrhahn zwanzig Jugoslawen zur wohl ersten ausländischen Betriebssportgemeinschaft in Hamburg zusammengeschlossen haben und sogar mit dem Bau eines Sportplatzes bei ihren Unterkünften begonnen haben. Ein anderes Mal wurde vor einem Jugoslawen gewarnt, der sich bereits wiederholt aus den Regalen von Lebensmittelgeschäften bedient hatte, ohne zu bezahlen. Zwei Italiener wurden von der Polizei dabei ertappt, wie sie auf dem Gelände der ehemaligen Jutespinnerei und -weberei mehr als 15.000 Mark, die sie mutmaßlich zuvor beim Aufbruch eines Tresors im Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof erbeutet hatten, untereinander aufteilen wollten. Zwei andere Italiener machten Schlagzeilen, weil sie zwei junge Mädchen, die sie am Hauptbahnhof aufgegabelt hatten, zu einer Gastarbeiterunterkunft in der Halskestraße gebracht, dort zur Prostitution angehalten und anschließend auf den Straßenstrich geschickt hatten.
Als ein größerer Gelbsucht-Ausbruch im Umfeld mehrerer Schulen im Hamburger Norden mit dem Verkauf von Softeis durch türkische Gastarbeiter und der aus dem Koran zitierten Vorschrift, sich nach der Verrichtung der Notdurft die Hände mit Wasser und Sand zu reinigen, in Zusammenhang gebracht wurde, ergriff der Billstedter Anzeiger entschieden Partei: „Von Seife und Papier war im Koran nicht die Rede. Daraus schloß ein findiger Kopf bei der Hamburger Gesundheitsbehörde, es sei dringend notwendig, alle mohammedanischen Gastarbeiter, die hier in Lebensmittel verarbeitenden Betrieben beschäftigt sind, künftig besser auf Beachtung der hygienischen Vorschriften hinzuweisen und sie ständig zu überwachen. Das traf auch die ‚Fischmarkt Hamburg Altona GmbH‘, wo etwa 70 türkische Gastarbeiterinnen Heringe und andere Fische verarbeiten. Wir haben uns vor einiger Zeit selbst davon überzeugen können, wie hygienisch einwandfrei die Frauen und Mädchen aus der Türkei dort untergebracht sind und wie sauber sie sich selbst halten. Es kommt nämlich sehr auf die Unternehmen an, die sich Arbeitskräfte aus fremden Ländern anheuern, ob sich diese unseren Sitten und Gebräuchen anpassen oder nicht, und ob sie so untergebracht sind und beaufsichtigt werden, damit sie nicht zu einer gesundheitlichen Gefährdung unserer Lebensmittel werden. Wie aber ist es möglich, daß in unserer weltaufgeschlossenen Hansestadt eine große Gruppe von Menschen, die bei uns zu Gast weilen, durch Behördenanweisung nur auf einen vagen Verdacht hin als ‚Bazillenträger der Gelbsucht‘ diffamiert werden? Wie kann eine vor 1350 Jahren gegebene religiöse Bestimmung, die zur Reinhaltung der Gläubigen vor dem Gebet erlassen wurde, so ausgelegt werden, als ob die Moslems heute noch stur nach den Buchstaben des Koran-Textes, aber nicht nach seinem Sinn leben? Damals gab es im Orient weder Seife noch Papier. Heute sind diese Toilettenartikel im abgelegensten Dorf der Türkei bekannt und werden ebenso zur Reinigung der Hände nach Verrichtung der menschlichen Notdurft gebraucht wie in anderen Kulturstaaten. Denn das widerspricht in keiner Weise dem Koran! Wir in Billstedt und Horn erinnern uns noch deutlich unserer Straßenbahnlinie ‚31‘, in der wir – hineingepreßt wie die Ölsardinen – in Richtung Fischmarkt befördert wurden. Man nannte unsere ‚31‘ im Volksmund die ‚Schellfischbahn‘, weil ihr oft jener typische ‚Eidelstedter Duft‘ anhaftete. Und die ‚Fischmarktweiber‘ erkannte man auch noch am Feierabend an jenem Sardellengeruch, den sie weithin verbreiteten. Davon ist in den Unterkünften der türkischen Frauen und Mädchen der Fischmarktgesellschaft nichts zu spüren, weil sie sich sehr sauber halten, wovon wir uns bei Besichtigung der Unterkünfte selbst überzeugen konnten. Umso mehr ist es unrecht, sie zu diffamieren, nur weil ihnen der Koran heilig ist.“
Auf der anderen Seite warnte der Billstedter Anzeiger allerdings auch junge Mädchen und Frauen in einem anderen Artikel eindringlich davor, sich mit Gastarbeitern einzulassen, da die kulturellen Unterschiede einfach zu groß seien. Ganz in dieses Bild passte ein Bericht über das Schicksal einer jungen Frau aus der Liebezeitstraße, die angesichts der Kreditschulden, die ihr marokkanischer Ehemann für den Erwerb eines Autos aufgenommen hatte, keinen anderen Ausweg sah, als ihren sechsjährigen Sohn mit Schaftabletten umzubringen und selbst auch einen Suizidversuch zu unternehmen.
Durch den im Zuge der Ölkrise im Jahr 1973 erlassenen Anwerbestopp endete der Zuzug von Gastarbeitern nach Deutschland. Zugleich sahen sich die hier bereits lebenden Arbeitsmigranten vor die Entscheidung gestellt, dauerhaft zu bleiben oder aber in ihre Heimatländer zurückzukehren. Viele entschlossen sich, in Deutschland zu bleiben und ihre Familien nachzuholen, was einen weiteren Zuzug von Ausländern zur Folge hatte.
Zeitgleich schufen die in den Jahren 1970 bis 1973 von der sozialdemokratisch geführten Regierung Brandt ausgehandelten Ostverträge erleichterte Bedingungen für die nach Ende des Zweiten Weltkriegs in den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches verbliebenen Deutschen, um in die Bundesrepublik auszuwandern. Im September 1974 waren es monatlich 32 Aussiedler aus Polen, die in Hamburg ankamen. Sie wurden zunächst im Aufnahmelager Neßpriel in Finkenwerder sowie in zwei weiteren Unterkünften in der Eißendorfer Straße in Harburg und in Bergedorf-West untergebracht. Die vielfach eingerichteten Aussiedler-Klassen machten es den Kindern nicht unbedingt leichter, die deutsche Sprache zu lernen, waren sie hier doch von lauter Kindern umgeben, deren Muttersprache Polnisch war. Und auch der Umstand, dass im Lager Neßpriel zugleich Obdachlose untergebracht waren, war der Integration in die bundesrepublikanische Gesellschaft nicht gerade zuträglich.
Viele der Aussiedler-Familien kamen in der Großsiedlung Mümmelmannsberg unter, in der in den Jahren 1972 bis 1979 insgesamt 7.200 Wohnungen fertiggestellt wurden. Dasselbe galt für die Gastarbeiter, die nun ihre Familien nach Deutschland nachholten und aus den Firmenunterkünften in reguläre Mietwohnungen übersiedelten. Die extra für die Unterbringung lediger Gastarbeiter errichteten Wohnheime wurden nun verstärkt von der Stadt für die Unterbringung von Obdachlosen angemietet. Ab Ende der 1970er Jahre kamen dann verstärkt Flüchtlinge aus den zahlreichen Kriegs- und Krisengebieten der Welt hinzu.
Der verstärkte Zuzug von Ausländern rief eine fremdenfeindliche und neonazistische Gewaltbereitschaft hervor, die sich auch in Billstedt zeigte. Bereits im Herbst 1971 überfielen alkoholisierte Rocker, die vom Steinbeker Marktfest zu der von ihnen genutzten Kate an der Glinder Au zurückkehrten, eine türkische Familie in dem von ihr bewohnten Behelfsheim, verprügelten sie derart, dass die Frau einen Schädelbruch erlitt, und verwüsteten die Behausung so stark, dass sie als unbewohnbar erklärt wurde. Ende der 1970er Jahre kam es dann wiederholt im Umfeld der Siedlung Sonnenland zu Hakenkreuz-Schmierereien, nachts wurden auf der Straße Nazi-Lieder gesungen und politisch Andersdenkende eingeschüchtert. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die rechtsextremistische Gewalt dann in der Nacht des 22. August 1980, als Mitglieder des rechten Terrornetzwerks Deutsche Aktionsgruppen auf das Wohnheim an der Halskestraße, das mittlerweile neben polnischen Aussiedlern auch von vietnamesischen Flüchtlingen bewohnt wurde, einen Brandanschlag verübten. Die drei durch das Fenster eines Zimmers im Erdgeschoss geschleuderten Molotow-Cocktails töteten den 18jährigen Anh Lân Dô sowie den 22jährigen Ngoc Nguyên, die zuvor über das Südchinesische Meer vor dem kommunistischen Regime in ihrem Land geflüchtet und von einer Rettungsorganisation geborgen worden waren. Dieser Anschlag gilt als der erste dokumentierte rassistisch motivierte Mord in Deutschland nach 1945. Laut einem Bericht der MOPO verloren in Hamburg in den 1980er Jahren vier weitere Menschen durch ausländerfeindlich motivierte Taten ihr Leben. Seit der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 starben einer Untersuchung der ZEIT zufolge bis zum Februar 2020 mindestens 182 weitere Menschen durch rechtsextremistisch motivierte Gewalt.
Billstedt entwickelte sich unterdessen zu einem in hohem Maße multiethnisch geprägten Stadtteil. Betrug der Ausländeranteil hier im Jahr 2002 22,6%, so belief sich der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund – also von Menschen, die selbst über Migrationserfahrung verfügten, oder aber mindestens ein Elternteil – im Jahr 2009 auf 47%. Die größten Gruppen von diesen insgesamt 32.511 Menschen stammten aus der Türkei, dem östlichen Mitteleuropa sowie aus Zentralasien. Als Ausländer geführt wurden am 31. Dezember 2008 in Billstedt insgesamt 15.644 Menschen aus mehr als 130 Ländern. Die größten Gruppen stellen dabei die Türken mit 4.365 Personen, die Afghanen mit 1.747 Personen, die Polen mit 1.742 Personen sowie die Menschen aus Serbien und Montenegro mit 1.054 Personen. Es folgten 555 Ghanaer, 437 Menschen aus der Russischen Föderation, 410 Portugiesen, 400 Menschen aus dem Iran, 395 Griechen, 389 Menschen aus Bosnien-Herzegowina, 362 Kroaten, 353 Mazedonier, 310 Ukrainer, 197 Italiener, 150 Togolesen, 143 Inder, 125 Iraker, 103 Vietnamesen, 98 Kasachen, 92 Nigerianer, 90 Österreicher, 88 Ägypter, jeweils 78 Franzosen und Bulgaren, 69 Indonesier, 67 Chinesen, 65 Libanesen, 64 Rumänen, 59 Menschen aus Aserbeidschan, jeweils 58 Niederländer und Spanier, 56 Tunesier und 50 Briten. Hamburgweit lag der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund Ende 2009 bei 28%. Bei den Bezirken stand Hamburg-Mitte, zu dem auch Billstedt gehört, mit 43% an der Spitze, während Harburg auf 35%, Bergedorf auf 29%, Altona auf 28%, Eimsbüttel und Wandsbek auf jeweils 23% und Hamburg-Nord auf 22% kam.
Bis Ende 2021 stieg der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund dann in Billstedt auf 61,2%, während ganz Hamburg auf 37,4% kam und bei den Bezirken Hamburg-Mitte mit nunmehr 51,7% vor Harburg mit 49,1%, Bergedorf mit 39,7%, Wandsbek mit 34,4%, Altona mit 34,1%, Eimsbüttel mit 30,5% und Hamburg-Nord mit 29,7% lag. Unter den Stadtteilen mit mehr als 4.000 Menschen mit Migrationshintergrund wiesen alleine Neuallermöhe mit 65,5% sowie Harburg mit 61,8% einen höheren Wert als Billstedt auf, während Wilhelmsburg ebenfalls bei 61,2%, Jenfeld bei 60,8%, Rothenburgsort bei 57,9%, Steilshoop bei 56,5%, Hausbruch bei 55,4%, Horn bei 54,7%, Borgfelde bei 51,4% und Lurup bei 51,3% lag. Absolut betrachtet stand Billstedt mit 43.289 Menschen mit Migrationshintergrund an der Spitze, gefolgt von Rahlstedt mit 32.955 (35,7% der Gesamtbevölkerung), Wilhelmsburg mit 32.229, Horn mit 20.566, Lurup mit 18.819, Bramfeld mit 17.348 (33%), Lohbrügge mit 17.327 (42,8%), Neugraben-Fischbek mit 16.288 (49,2%), Harburg mit 16.272, Langenhorn mit 15.511 (33,6%), Neuallermöhe mit 15.268 und Eidelstedt mit 15.206 (42,6%).
Die Zahl der als Ausländer geführten Menschen war bis zu diesem Zeitpunkt in Billstedt auf 19.613 angewachsen. Insgesamt wurden nun über 140 Herkunftsländer verzeichnet. Die größten Gruppen stellten auch jetzt die Türken mit 3.376 Personen, die Polen mit 2.478 Personen und die Afghanen mit 2.048 Personen. Ihr jeweiliger Anteil an den Menschen mit Migrationshintergrund belief sich auf 18,1%, 14% und 13,5%. Es folgten nunmehr 1.100 Syrer, 1.018 Rumänen, 710 Nordmazedonier, 709 Bulgaren, 605 Ghanaer, 591 Serben, 553 Portugiesen, 478 Kroaten, 374 Griechen, 357 Menschen aus der Russischen Föderation, 327 Menschen aus Bosnien-Herzegowina, 324 Menschen aus dem Iran, 249 Italiener, 232 Vietnamesen, 224 Spanier, 220 Iraker, 206 Ukrainer, 178 Menschen aus dem Kosovo, 176 Inder, 157 Ägypter, 130 Montenegriner, 112 Somalier, 103 Niederländer, 98 Albaner, 97 Litauer, 93 Chinesen, 84 Österreicher, 83 Nigerianer, jeweils 81 Eritreer und Kasachen, 76 Pakistani, jeweils 71 Menschen aus Frankreich, Togo und dem Vereinigten Königreich, 69 Indonesier, 65 Letten, 64 Tunesier sowie 62 Menschen aus der Republik Moldau.
In besonders stark von Zuwanderern bewohnten Teilen Billstedts wie etwa der Großsiedlung Mümmelmannsberg verfügen mittlerweile über 80% der Schulkinder über einen Migrationshintergrund. Neben den evangelischen und katholischen Kirchen sind inzwischen mehrere Gotteshäuser anderer Konfessionen entstanden. So findet sich sowohl in der Billstedter Hauptstraße als auch in der Möllner Landstraße eine Moschee, und das Gebäude der Schiffbeker Kreuzkirche ist vor einiger Zeit von einer christlich-aramäischen Gemeinde übernommen worden.
Dass diese Zuwanderung nicht unbedingt, wie vielfach angenommen, eine erhöhte Gewalt- und Kriminalitätsrate zur Folge hat, wird seit Jahren von der Geschichtswerkstatt Billstedt auf der Grundlage der polizeilichen Kriminalitätsstatistik nachgewiesen. So liegt die Kriminalitätsrate von Billstedt schon lange unter dem Hamburger Durchschnitt und entfernt sich immer mehr von diesem. Kamen hier im Jahr 2002 noch 134 Straftaten auf 1.000 Einwohner, so waren es im Jahr 2018 nur noch 105,5, während in ganz Hamburg zu diesen Zeitpunkten 186 bzw. 119,1 Straftaten auf 1.000 Einwohner entfielen. Damit war der Stadtteil im Jahr 2018 bereits besser als Wandsbek und Marienthal und rangierte nur knapp hinter Bahrenfeld, Bergedorf und Ottensen. Statt einer Hochburg der Kriminalität ist es schon seit vielen Jahren vielmehr ein Stadtteil, in dem das multiethnische Miteinander ziemlich gut und immer besser funktioniert und der so einen wichtigen Beitrag leistet für die Integration von Zuwanderern.
Damit kann Billstedt durchaus als Modell für die Zukunft Deutschlands dienen. Denn ohne weitere Zuwanderung wird das Land zunehmend vergreisen, an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit einbüßen und seine Sozialsysteme kaum noch finanzieren können. Nicht zuletzt deshalb wäre es schön, wenn diese Leistung von der Hansestadt Hamburg in höherem Maße anerkannt und der Stadtteil in seiner Entwicklung stärker gefördert und entschiedener aufgewertet werden würde.