Der Mord an Flight-Sergeant Kevin George Clark
Im Zweiten Weltkrieg flogen die Alliierten 213 Angriffe auf Hamburg, wobei sie insgesamt 440 Maschinen verloren. Allein elf entfielen dabei auf den letzten großen Tagangriff, der am Vormittag des 31. März 1945 von 469 Flugzeugen ausgeführt wurde. Ein Großteil fiel dabei den plötzlich angreifenden Me 262-Jägern zum Opfer.
Anders dagegen die Lancaster-Maschine, die an diesem Ostersamstag in Billstedt abstürzte. Sie gehörte zum Pathfinder Squadron 635 aus Downham Market in Norfolk, sollte Zielmarkierungen für die Bombardierung der Werftanlagen von Blohm & Voss setzen, wo sich U-Boote des neuen Typs XXI im Bau befanden, und wurde angeblich von der Flak auf dem Wilhelmsburger Hochbunker getroffen.
Die siebenköpfige Besatzung versuchte noch eine Notlandung - ein Augenzeuge berichtet, dass sie in niedriger Flughöhe im Bereich der Archenholzstraße noch Bomben abwarf -, doch nachdem eine Tragfläche abgebrochen war, zerschellte das Flugzeug im Garten des Hauses im Öjendorfer Steinkamp 23, wo es explodierte. Ein Bordschütze hatte die Maschine nicht mehr verlassen können und hing tot in seiner Kanzel, vier weitere waren aus dem zuletzt wie ein Boomerang rotierenden Bomber herausgeschleudert worden oder ausgestiegen, ohne dass sich der Fallschirm noch wirksam öffnen konnte. Sie lagen ebenfalls tot im näheren Umfeld der Maschine, während die abgebrochene Tragfläche sowie ein Motor südlich der Möllner Landstraße niedergegangen waren.
Den verbleibenden zwei Besatzungsmitgliedern gelang es derweil, sich mit dem Fallschirm zu retten. Der eine, der Australier J.J. Kennelly, ging nahe dem Kalksandsteinwerk in Kamerun nieder und wurde gesehen, wie er zwischen Wegkoppel und Steinfurther Allee durch die Gärten in Richtung Boberg lief. Zunächst hatten Anwohner noch überlegt, ihn zu sich ins Haus zu holen, doch dann angesichts der fanatischen Nazis in der Nachbarschaft davon Abstand genommen. Wie weit er gekommen ist, ist nicht überliefert. Gerüchte besagten gar, dass er von Boberger Bauern mit Mistforken erstochen worden war. Doch tatsächlich geriet er in Gefangenschaft und konnte nach Kriegsende in seine Heimat zurückkehren. Möglicherweise war er es auch, der von zwei Personen untergehakt die Möllner Landstraße entlang in Richtung Billstedter Zentrum geführt wurde.
Diese Gerüchte über Selbstjustiz kamen allerdings nicht von ungefähr. Nachdem Heinrich Himmler 1944 dazu aufgerufen hatte, überlebende Besatzungsmitglieder abgeschossener Flugzeuge dem Volkszorn auszusetzen, kam es vermehrt zu Übergriffen und Lynchmorden. Hatte man die toten Feinde zu Kriegsbeginn häufig noch mit militärischen Ehren bestattet, so verscharrte man sie jetzt oft am Wegesrand.
Und auch im Falle des zweiten Besatzungsmitglieds, das den Absturz überlebte hatte, des 20jährigen Kevin George Clark aus Australien, kam es zum Mord. Er war mit seinem Fallschirm in der Oststeinbeker Überlandleitung hängengeblieben und konnte sich aus eigener Kraft nicht befreien. Als erstes traf der damals 25jährige Norweger Waldemar Eversen ein, der mit einer Oststeinbekerin verheiratet war. Er vergewisserte sich, dass der Flieger unbewaffnet war, und half ihm dann, auf den Boden zu kommen. Zwei weitere Oststeinbeker, die wenig später hinzukamen, waren nicht so wohlgesonnen. Sie beschimpften den Australier und wollten handgreiflich werden, worauf Eversen einen von ihnen niederschlug. Anschließend begab sich Eversen mit Clark auf den Weg zu seinem Haus, wobei sie von mehreren Anwohnern angefeindet wurden. Da noch Fliegeralarm herrschte, wollte er den Flieger zunächst bei sich im Keller unterbringen. In Oststeinbek selbst übergab er Clark an den Feuerwehrmann Paul Wilhelm Ohde, der ihn sodann gemeinsam mit dem Dorfpolizisten Peter Beth in die Arrestzelle des Gemeindehauses brachte. Von dort wurde er durch den Ortsgruppenleiter Willi Husen und den Polizeimeister in der Mittagszeit mit dem nach Reinbek verkehrenden Bus zum Heereszeugamt in Glinde überführt.
Damit befand er sich in der Obhut der Wehrmacht und unterlag damit der Genfer Kriegsgefangenen-Konvention von 1929. Der Befehlshabende Oberst Bernicke wollte Clark zunächst nach Hamburg überführen lassen. Doch da schaltete sich der Befehlshaber der Volkssturmabteilung beim Heereszeugamt, der 1887 geborene Heinrich Specht ein und bat den Oberst, den Gefangenen ihm zu überlassen. Angeblich sagte er: „Ich will den Mann dahin bringen, wohin er gehört. Ich habe die nötigen Scharfschützen.“
Bei einer späteren Vernehmung durch die Engländer führte Specht aus, lediglich die Befehle des Oberst ausgeführt zu haben und bei der Auswahl derjenigen, die ihn nach Reinbek bringen sollten, von wo aus er mit dem Zug nach Hamburg überführt werden sollte, extra darauf geachtet zu haben, dass diese nicht unter den englischen Luftangriffen gelitten hätten. Zwei weitere Zeuge schilderten jedoch, dass Specht den Australier, als er ihn aus der Zelle im Keller holte, beschimpft und geschlagen habe und dann gegenüber dem Oberst ausgeführt hätte: „Es gibt nur eine Möglichkeit mit solchen Kriminellen, liquidieren!“
Tatsächlich überließ Bernicke den Australier Spechts Volkssturmabteilung, und Specht erteilte dem ihm untergebenen, 1891 in Wentorf geborenen Heinrich Siemer unter vier Augen den Befehl, Clark bei der Überführung nach Reinbek zu erschießen. Er übergab ihm ein Gewehr mit fünf Schuss, stellte ihm die beiden Volkssturmleute Franz Mercier und Hans Rosenkranz zur Seite und schlug ihm einige geeignete Stellen für den Mord vor. Oberst Bernicke steckte ihm noch zur Beruhigung 20 Zigaretten zu und gab ihm laut Specht „Bei Flucht Waffeneinsatz!“ mit auf den Weg.
Nach etwa 25 Minuten Fußmarsch tötete Siemer den jungen Australier aus kurzer Entfernung von hinten durch einen Kopfschuss. Er selbst schildert die Tat wie folgt: „Ich war sehr aufgeregt, habe nicht gesprochen, dachte nur an die ungeheure Aufgabe, die ich ausführen sollte. Ich handelte wie im Traum, war nicht fähig zu denken und erschoss den Flieger. Wegen der großen Aufregung musste ich aus nächster Nähe schießen, um auch gleich einen sanften Tod zu gewährleisten.“
Anschließend begab er sich zurück ins Heereszeugamt und meldete Vollzug. Der Oberst und Specht sicherten ihm zu, ihn zu decken; letzterer lud ihn zudem auf ein Bier in die Kantine ein. Danach war Siemer allerdings nicht zu Mute: „Ich hatte das Bestreben, nach Hause zu kommen und mochte das Zeugamt nicht mehr zu sehen. Unterwegs habe ich dann noch über eine Stunde im Wald gelegen, um mich zu beruhigen.“
Clarks Leichnam wurde unterdessen mit einem Auto ins Lazarett nach Reinbek und von dort zur alten Friedhofskapelle auf dem Bergedorfer Friedhof überführt, wo er zusammen mit zwei weiteren alliierten Luftwaffenangehörigen eingeäschert wurde. Mittlerweile liegt er ebenso wie die fünf in Billstedt zu Tode gekommenen Besatzungsmitglieder, die zunächst an der Straßenecke Möllner Landstraße/Wegkoppel verscharrt worden waren, - unter ihnen drei weitere Zwanzigjährige - auf dem britischen Militärfriedhof in Ohlsdorf.
Bald nach der Einnahme Hamburgs machten sich die Engländer auf die Suche nach vermissten Flugzeugbesatzungen. Im Zuge dieser Ermittlungen wurden auch Siemer, Specht und Bernicke verhaftet. Zunächst waren sie in Neumünster interniert, wo sich Bernicke und Specht angeblich bemühten, alles auf Siemer abzuwälzen. Ab dem 17. Juni 1946 wurde ihnen dann im Curiohaus in Hamburg der Prozess gemacht. Drei Tage später wurde Heinrich Siemer erhängt in seiner Zelle aufgefunden. In dem bei ihm aufgefundenen Abschiedsbrief schildert er noch einmal die Ereignisse am 31. März 1945 und begründet seinen Selbstmord wie folgt: „Ich halte es nicht mehr aus. Mein Herz will nicht mehr. Habe mich in der letzten Zeit auch schon in Neumünster damit geplagt. Auch kann ich als Deutscher es nicht mit ansehen, dass die Deutschen sich gegenseitig das Leben schwer machen.“ Acht Tage später wurde das Urteil gefällt: Heinrich Specht erhielt 10 Jahre Gefängnis, Franz Mercier, Hans Rosenkranz und auch Oberst Bernicke wurden freigesprochen.
(Diese Ausführungen stützen sich überwiegend auf den Artikel „Ostersamstag, der 31. März 1945. Der Mord an Flight-Sergeant Kevin George Clark“ von Karlheinz Schmidt, erschienen im Jahrbuch für den Kreis Stormarn 2008, S. 45-61)