Billstedt: spannende Geschichte und ganz viel mehr
Billstedt. Die meisten Hamburger sind hier wohl noch nie gewesen. Noch weniger haben sich vermutlich jemals tiefergehend und unvoreingenommen mit dem Stadtteil auseinandergesetzt. Doch eigentlich alle wissen ganz genau, wie es dort ist: Hochhäuser. Arbeitslose. Armut. Kriminalität. Gewalt. Und „Ausländer“! (Was auch immer all das genau zu bedeuten hat.) Der Tatort-Kommissar Falke kennt das Gesetz der Straße, denn er ist in Billstedt groß geworden. Der Komiker-Enkel Marek Ehrhardt war hier undercover mit Zivilfahndern unterwegs und hat ein Buch über „das härteste Revier der Stadt“ geschrieben. Ist zwar ein schön reißerischer Titel, der wahrscheinlich viel Aufmerksamkeit und Auflage bringt, nur die Geschichten, die man darin zu lesen bekommt, sind dann doch eher dürftig, liegen zum Teil schon lange zurück, betreffen den Stadtteil mitunter eigentlich gar nicht – und bilden die Realität auch kaum ab. Denn die Kriminalitätsrate in Billstedt liegt bereits seit vielen Jahren unter dem Hamburger Durchschnitt und war zuletzt stetig am Sinken. Im Jahr 2018 schnitt der Stadtteil in der polizeilichen Statistik bereits besser ab als Wandsbek und Marienthal. Aber all das interessiert eigentlich auch niemanden so richtig. Viel schöner ist es doch, sich gegenseitig in seinen Vorurteilen zu bestätigen. Und die Medien machen gerne mit. Gemeinsam pflegt man sich so einen Ort ohne Lobby und Selbstbewusstsein, um den sich Politik und Verwaltung nicht zu kümmern brauchen und den sie immer wieder bequem dafür hernehmen können, um die hässlichen Probleme der Stadt billig zu lösen.
Für denjenigen, der sich dennoch traut, einmal genau hinzuschauen oder gar hinzugehen, gibt es dabei eine Menge zu entdecken: Zunächst einen bunten, lebendigen Stadtteil mit 70.000 Einwohnern und sehr vielen unverstellten, freundlichen Menschen. Dann einen Stadtteil, in dem das multiethnische Miteinander ziemlich gut funktioniert. Einen sehr grünen Stadtteil, der nicht nur über den riesigen Öjendorfer Park, den waldartigen Öjendorfer Friedhof sowie die schönen Wasserläufe von Jenfelder Bach, Schleemer Bach und Glinder Au verfügt, sondern auch weitläufige Einzel-, Doppelhaus- und Reihenhausgebiete mit überwiegend großen Grundstücken hat. Einen Stadtteil, in dem auch noch Platz für Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen ist. Ein leistungsfähiges, gut funktionierendes Einkaufzentrum und ein toller Wochenmarkt. Eine große Nähe zur Hamburger Innenstadt und eine hervorragende Verkehrsanbindung. Kurze Wege zur Boberger Niederung, in die Havighorster Felder, zum Sachsenwald und in die Vier- und Marschlande. Ein großes Stadtteilkulturzentrum, vielfältige andere Freizeitangebote sowie das eine oder andere ganz passable Restaurant.
Und dann gibt auch noch eine hochspannende Geschichte: Billstedt entstand im Jahr 1927 durch den Zusammenschluss der damals noch preußischen Gemeinden Schiffbek, Kirchsteinbek und Öjendorf, ehe es im Jahr 1937 durch das Groß-Hamburg-Gesetz unter die Verwaltung der Hansestadt kam. Die drei Ortschaften verfügen dabei über ganz unterschiedliche Entwicklungen.
Schiffbek, das den westlichen Teil des heutigen Billstedts bildet, wandelte sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts binnen kurzer Zeit vom Dorf zu einem ausgeprägten Arbeiterquartier. Die Einwohnerzahl stieg von 980 im Jahr 1880 auf knapp 10.000 im Jahr 1910. Auslöser für den Zuzug so vieler Menschen waren die zahlreichen Fabriken, die in dieser Zeit an Unterlauf der Bille errichtet wurden. Es entstand so ein ausgeprägtes proletarisches Milieu, das im Jahr 1923 eine der Hochburgen des Hamburger Aufstands bildete und bis in die 1970er Jahre Bestand hatte. Die Schiffbeker Feldmark, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs noch weitgehend landwirtschaftlich genutzt worden war, wurde ab 1948 mit zahlreichen Komplexen aus Kleinsiedlungshäusern bebaut. Sein Zentrum erfuhr dann ab Ende der 1960er Jahre eine ziemlich misslungene Transformation mit etlichen Bausünden, die bis heute bestehen und sicherlich einen erheblichen Anteil an der üblen Außenwahrnehmung des Stadtteils haben.
Das östlich anschließende Kirchsteinbek war bis ins 20. Jahrhundert hinein ein bedeutender Zentalort im Osten Hamburgs. Mutmaßlich befand sich hier im 11. Jahrhundert der Sitz der Stormarner Overboden, bei denen es sich um Amtsträger mit mit militärischen und richterlichen Befugnissen handelte. Das wohl auf diese Zeit zurückgehende Kirchspiel erstreckte sich lange Zeit bis zum Westrand des Sachsenwalds und zählte Mitte des 19. Jahrhunderts knapp 5.000 Gemeindemitglieder. Im Gegensatz zu Schiffbek erfuhr Kirchsteinbek im Zuge der Industrialisierung nur einen überschaubaren gewerblichen Aufschwung. Seine Einwohnerzahl stieg zwischen 1855 und 1925 lediglich von 562 auf 2.154. In seiner Feldmark entstanden zwischen den 1950er und den 1970er Jahren zahlreiche Komplexe des sozialen Wohnungsbaus, die hinsichtlich Größe, Dichte und Höhe stetig zunahmen. Den Abschluss bildete in den Jahren 1970 bis 1979 die Großsiedlung Mümmelmannsberg mit ihren 7.200 Wohnungen für 24.000 Menschen, die im Grunde einen eigenständigen Stadtteil im Stadtteil bildet.
Das nördlich gelegene Öjendorf blieb unterdessen bis über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus durch und durch Dorf. Seine Einwohnerzahl stieg zwischen 1860 und 1925 nur von knapp 200 auf 687. Eine gewerbliche Entwicklung jenseits der Landwirtschaft gab es hier bis heute fast gar nicht. Doch schon in den 1920er Jahren griff die Stadt Hamburg hierhin aus: Zunächst wurde ab 1927 in der Öjendorfer Feldmark in großen Stil Sand für die Aufhöhung der Horner Marsch abgebaut. Im Jahr 1933 begannen dann die Arbeiten für den Öjendorfer Friedhof, der den an seine Grenzen stoßenden Zentralfriedhof in Ohlsdorf entlasten sollte. Nachdem man die Baggerkuhle ab 1948 mit Millionen Tonnen Trümmerschutt aus den östlichen Hamburger Stadtteilen aufgefüllt hatte, wurde dort ab 1958 mit der Anlage des Öjendorfer Parks begonnen. Sein zentrales Element ist der Öjendorfer See, der ab 1954 durch die Einleitung von Wasser aus dem benachbarten Schleemer Bach geschaffen wurde. Der Rest der Öjendorfer Feldmark wurde ebenfalls in den 1960er und 1970er Jahren mit verschiedenen Siedlungskomplexen bebaut, die allerdings durchweg kleinteiliger blieben als in Kirchsteinbek. Gegenwärtig fallen im ehemaligen Dorfkern die letzten Bauernhäuser und werden durch modernen Wohnungsbau ersetzt. Dies ist im Übrigen eine Entwicklung, die man seit einigen Jahren auch in Schiffbek und Kirchsteinbek beobachten kann. Offensichtlich verlieren Bauherren und Investoren zunehmend die Scheu, in dem vermeintlich so verrufenen Stadtteil zu bauen.
Und dann ist da noch das südlich an Billstedt angrenzende Billbrook. Es gehört zwar schon seit 1395 zu Hamburg, doch bildet es spätestens seit der Industrialisierung mit Schiffbek eine Lebenswelt. Nachdem es bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bei wohlhabenden Hamburgern ein sehr beliebter Standort für ihre Landhäuser und zudem ein gerne besuchtes Ausflugsziel gewesen war, wandelte es sich nach ersten Anfängen um 1850 endgültig ab den 1880er Jahren zu einem ausgeprägten Industriegebiet. Von den zahlreichen Fabriken unterschiedlichster Branchen, in denen im Jahr 1939 mehr als 8.000 Menschen tätig waren, gingen immer wieder schwerste Umweltvergiftungen aus. Ab den 1930er Jahren entstanden hier zudem etliche Behelfsheimsiedlungen und Wohnlager mit zeitweise mehr als 10.000 Bewohnern. Als die Stadt Hamburg das Gebiet, das sie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Gründen des Hochwasserschutzes aufgehöht, mit Kanälen, Bahnanlagen und Straßen versehen und im Jahr 1912 zum eigenständigen Stadtteil erhoben hatte, ab 1960 weiter ausbauen wollte, mussten diese Menschen größtenteils weichen. Doch auch heute finden sich in hier noch mehrere umfangreiche öffentliche Wohnunterkünfte. Mit einer Fläche von 612 Hektar ist Billbrook heute das größte Industriegebiet Hamburgs neben dem Hafen. Allerdings ist die Zahl der Arbeitsplätze, die in den 1970er Jahren noch bei über 17.000 gelegen hatte, mittlerweile auf unter 10.000 gesunken. Und auch das produzierende Gewerbe spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. Stattdessen dominieren Betriebe der Ver- und Entsorgung sowie Logistikunternehmen.
Die Geschichtswerkstatt Billstedt ist eine relativ junge und kleine Geschichtswerkstatt. Sie wurde im Jahr 2007 gegründet und wird seit dem Jahr 2018 von der Stadt Hamburg mit gut 10.000 Euro im Jahr institutionell gefördert. Neben einer Homepage (die hoffentlich bald wieder im vollen Umfang zur Verfügung steht) und einer regelmäßig geöffneten Büro bietet sie mehrere öffentliche Stadtteilspaziergänge und Fahrradrundfahrten zu mittlerweile sieben verschiedenen Themen an. Ihr Schwerpunkt liegt allerdings auf der Erarbeitung von Publikationen.
Für den Ortsteil Schiffbek liegen bereits drei Titel vor. Zum einen eine detaillierte Schilderung seiner Wandlung vom Dorf vor den Toren zum Arbeiterquartier der Großstadt Hamburg, die die Zeit von 1850 bis 1937 abdeckt und in erster Linie auf der Grundlage der örtlichen Lokalzeitung erstellt worden ist. Dann eine facettenreiche Darstellung der Entstehung der vielfältigen Siedlungen aus den 1920er bis 1950er Jahren im Bereich der ehemaligen Schiffbeker Feldmark und des dortigen Lebens, die anhand von Interviews in einer Gesamtlaufzeit von 24 Stunden mit rund 40 Bewohnerinnen und Bewohnern erarbeitet wurde. Und schließlich ein Buch über Schiffbek in den 1960er Jahren, dessen Herzstück die spannende Biografie einer hier im Jahr 1951 geborenen Frau bildet, das zugleich aber auch einen wunderbaren Bildbestand mit gut 40 Aufnahmen aus dieser Zeit sowie einige weitere kleine Beiträge umfasst.
Über Kirchsteinbek und Öjendorf wurde jeweils eine eigenständige Publikation erstellt, die neben einer ausführlichen Dokumentation ihrer Entwicklung von den Anfängen bis zur Gegenwart und umfangreichem Bildmaterial – beispielsweise zu den Anfängen des Öjendorfer Friedhofs und der Trümmeraufbereitungsanlage, die bis in die 1960er Jahre hinein auf dem Gelände des heutigen Öjendorfer Parks betrieben worden ist – auch weitere kurze Texte enthalten. Im Falle Kirchsteinbeks sind dies etwa Beiträge über die Mühlen im Tal der Glinder Au, die Großsiedlung Kaltenbergen und autobiographische Erzählungen eines Mannes, der hier zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgewachsen ist, im Öjendorf-Buch hingegen mehrere anschauliche Schilderungen des dörflichen Lebens in den 1920er bis 1950er Jahren.
Die Jubiläumsschrift „10 Jahre Geschichtswerkstatt Billstedt“ bietet zum einen die vielfältig erweiterten Texte des im Jahr 2012 gemeinsam mit dem Bezirk Hamburg-Mitte erarbeiteten Billstedter Geschichtspfads, zum anderen eine Sammlung ganz unterschiedlicher politischer Beiträge. Hierzu zählen eine ausführliche Dokumentation zur bereits oben angesprochenen Kriminalitätsentwicklung sowie zwei städtebauliche Impulse für die Aufwertung Billstedts. Der eine zielt auf die Umwandlung der Billstedter Hauptstraße in einen attraktiven Boulevard, der andere auf eine Überdeckelung der Schnellstraße B5 im Bereich des Billstedter Zentrums, die diesem eine reizvolle Wasserkante am Ufer der Bille erschließen und zugleich Raum für umfangreichen neuen Wohnungsbau schaffen würde.
Im April 2021 konnte schließlich die erste umfassende Darstellung zur Geschichte des Industriegebiets Billbrook veröffentlicht werden. Sie ist in Form einer Rundfahrt mit 30 Stationen konzipiert, an denen ungefähr 80 unterschiedliche Themen behandelt werden. Zusammen mit einem bereits vergriffenen, knapp 90-seitigen Bildband mit Luftaufnahmen aus den 1950er und 1960er haben die Publikationen der Geschichtswerkstatt Billstedt nunmehr schon einen Umfang von über 1.400 Seiten mit etwa 1.000 Abbildungen. Für die nächsten Jahre sind ein weiterer Sammelband mit vielfältigen Beiträgen, eine umfassende Veröffentlichung über die Geschichte der Großsiedlung Mümmelmannsberg und eine Jubiläumsschrift anlässlich des 100sten Geburtstags Billstedt im Jahr 2027 geplant.